Zurück zur Inhaltsverzeichnis     Birgit Ahrens: "Summerhill" - Wissenschaftliche Hausarbeit - Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen 1996


  1. Oder bestimmt das Bewußtsein das Sein? - Die Pädagogik A.S. Neills


Nachdem ich im vorigen Kapitel versucht habe, die Bewußtseinsbildung anhand des Lebens von A.S. Neill zu skizzieren, wende ich mich nun der daraus resultierenden Basis seiner Pädagogik zu.


    3. 1. Die anthropologischen Grundlagen der antiautoritären Pädagogik A.S. Neills


    3. 1. 1. Die Erziehungsphilosophie Jean-Jacques Rousseaus


Da sich Neills Menschenbild stark an das Rousseausche anlehnt, halte ich es für angebracht, an dieser Stelle Jean-Jacques Rousseaus Erziehungslehre näher zu betrachten, der von sich selbst behauptete, daß er "alle Kenntnisse vom Menschen habe" (zit. n. Weischedel 1975, 160).

Rousseaus Erziehungstheorie liegen zwei entscheidende Anschauungen zugrunde:

  1. Das Kind ist wie jeder Mensch von Natur aus gut. Daraus folgt, daß die Kindheit etwas Wertvolles ist, das es möglichst lange zu erhalten und gegenüber den gesellschaftlichen Ansprüchen zu stärken gilt.

  2. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Kinder haben eine eigene Persönlichkeit, die es zu fördern und zu respektieren gilt. Erziehung darf nicht nur als Vorstufe zum Erwachsensein gesehen werden. Rousseau kritisiert vor allem, daß Kinder oft mit Wissen konfrontiert werden, für das sie eigentlich noch nicht reif sind und zu dem sie keinen Bezug herstellen können (vgl. van Dick, 1979, 19f).

Da Rousseau den Menschen als prinzipiell gut betrachtet, der Mensch sich jedoch nicht gut verhält, muß es Gründe für dieses seiner Natur widersprechende Verhalten geben, die nicht in seiner Natur begründet liegen, sondern auf externe Einflüsse zurückgehen. Da Rousseau die Existenz einer guten respektive bösen "höheren Macht" negiert, sieht er die Ursachen für ein Verhalten des Menschen entgegen seiner natürlichen Veranlagung in der Gesellschaft, die von Menschen gebildet wird, die aufgrund des schlechten Vorbilds anderer ihre "gute Natur" zugunsten der eigenen Interesses überwunden haben. Der Mensch an sich ist nicht schlecht, die Gesellschaft macht ihn schlecht. Daraus ergibt sich für die Erziehungstheorie Rousseaus, daß die dem Individuum immanenten guten Anlagen gefördert und die negativen Einflüsse der Gesellschaft von ihm ferngehalten werden müssen. Rousseaus Erziehungstheorie wurde zum Vorbild einer ganzen Epoche der Pädagogik, indem er behauptete, daß Menschen alles, was sie sind und tun, aus sich selbst heraus sind und tun. "Der Mensch wird frei geboren" (zit. n. Weischedel 1975, 168), also nimmt Rousseau an, daß der ursprüngliche Zustand des Menschen durch Freiheit und Glück gekennzeichnet ist. Rousseau ist also - im Gegensatz beispielsweise zu den englischen Liberalisten des 17. Jahrhunderts, wie Thomas Hobbes - der Ansicht, daß der Naturzustand nicht vom Kampf aller gegen alle gekennzeichnet ist sondern von allgemeiner Harmonie, es also einen idyllischen Naturzustand vor der Gesellschaft gegeben haben muß.

Die Betonung eines nicht-transzendenten externen Faktors, der die ursprüngliche Natur des Menschen gewissermaßen überwindet, findet man auch bei Neill in Gestalt der konventionellen Erziehung und der bürgerlichen Gesellschaft.


    3. 1. 2. Neills Menschenbild


Neills Menschenbild ist gekennzeichnet von dem prinzipiellen Glauben an das Gute im Menschen, was die Grundlage seiner Pädagogik bildet.

"Wenn wir einen Säugling betrachten, dann wissen wir, daß an ihm keine Schlechtigkeit ist. [...] Das Neugeborene bringt eine Lebenskraft mit, seinen Willen, seinen unbewußten Drang zu leben." (Neill 1969, 234).

Neill ist davon überzeugt, daß das Kind alle Voraussetzungen besitzt, das Leben zu lieben und am Leben interessiert zu sein. Jede natürliche Neigung zum Schaden des anderen negiert er jedoch; es gibt für ihn weder aggressive noch destruktive Triebe, weder einen Grausamkeits- noch einen kriminellen Instinkt (vgl. Neill 1969, 248 u. 351) "... noch irgendeine natürliche Neigung zur Böswilligkeit" (Neill 1969, 251).

Er sieht die Persönlichkeit des Menschen als die Summe der Eigenschaften, die dieser im Kontakt mit seiner Umwelt und insbesondere der Erziehung durch Elternhaus und Schule erworben hat. Außerdem ist der Mensch oftmals durch emotionale Momente beeinflußt. Jeder Mensch bildet demnach einen Charakter aus, der durch die Erziehungs- und Umwelteinflüsse in der Kindheit geformt wird. Diese frühen Bildungsprozesse sind relevant für die Entstehung eines im psychologischen Sinne gesunden oder kranken Menschen. Neill kommt zu der Erkenntnis, daß Entwicklungsschwierigkeiten, Entwicklungsstörungen und Neurosen in der Kindheit ihren Ursprung finden.

"Das schlechte Betragen eines Kindes ist ein sichtbarer Beweis dafür, daß ein Kind falsch behandelt worden ist. Das durchschnittliche Kind akzeptiert das Wissen der Eltern - in einer Atmosphäre der Liebe." (Neill 1969, 162).

Er sieht im Menschen kein Abbild Gottes, dessen Schicksal vorbestimmt ist, sondern ein von physischen, psychischen und sozialen Faktoren seiner Umwelt beeinflußtes soziales Wesen. Ein Kind wird so ein Abbild derer, die ihn erziehen; so gelten beispielsweise die Eltern als erste Ansprechpartner, da vor allem sie die Erziehungsarbeiten ausführen.

"Am gefährlichsten für die Kinder ist die Unwissenheit der Eltern. Im allgemeinen wird eine Mutter, die als Kind geschlagen wurde, ihr Kind schlagen. Ihre Haltung wird sein: ,Ich mußte als Kind gehorchen, also muß mein Kind auch gehorchen'. Die Eltern übernehmen einfach die autoritären Erziehungsmethoden ihrer eigenen Eltern und Großeltern." (Neill 1972, 14).

Wenn Neill von der menschlichen Natur spricht, sind die eigenen Bedürfnisse, wie Nahrung, Bewegung, Sprechen, Sozialkontakt oder Liebesbeziehungen gemeint, nach deren Befriedigung der einzelne strebt. Darüber hinaus geht Neill davon aus, daß jedes Kind eine natürliche Lernbereitschaft und Wißbegierde sowie ein natürliches Streben nach einer Beschäftigung aufweist.

Ein in Neills Sinne gut erzogener Mensch soll sich durch folgende Eigenschaften auszeichnen: "Er ist frei, daher harmonisch und glücklich; er haßt Gewalt und Zwang; er läßt sich nicht in die enge Zwangsjacke des Konformisten zwängen, sondern ist ein schöpferischer, origineller Individualist, er ist aufrichtig, selbstbewußt und tolerant." (Neill 1969, 44).


    3. 1. 3. Neills Gesellschaftsbild


"Unsere Gesellschaft ist krank und unglücklich. [...]. Es gibt kein problematisches Kind. Es gibt nur problematische Eltern. Vielleicht wäre es noch besser zu sagen: Es gibt nur eine problematische Menschheit." (Neill 1969, 112).

Neill behauptet, daß die Gesellschaft schlecht ist, weil die Menschen durch Unfreiheit und Unterdrückung geformt sind. Mit der Gründung von der Schule Summerhill, der neue Erziehungsmethoden zugrundegelegt worden sind, beabsichtigt Neill die Befreiung der Menschheit von ihrem Unglück, zumindest derjenigen, denen es möglich ist, seine Schule zu besuchen.

"Das Ziel unseres Lebens ist Glück. Alles Übel im Leben besteht in der Einschränkung oder Zerstörung des Glücks." (Neill 1969, 120). Damit das Individuum von Glück umgeben sein kann, muß es sich selbst überlassen werden.

"Die Zukunft Summerhills selbst mag von geringer Bedeutung sein. Doch die Zukunft der Summerhill-Idee ist für die Menschheit sehr wichtig. Neue Generationen müssen die Chance erhalten, in Freiheit aufzuwachsen." (Neill 1969, 104).

Neill kritisiert an der Gesellschaft, daß Kindern keine kindgerechte Erziehung zuteil wird, da Haß und Unterdrückung herrsche. Ferner behauptet er, daß Kinder durch Mißbilligung, Disziplin, Strafe und Moralpredigten erzogen werden. Die Ursache der kranken Gesellschaft liege in diesem Erziehungsverfahren; Neill spricht den Eltern die Hauptverantwortung für die Unterdrückung der Kinder zu.

"Die Zukunft der Menschheit liegt in den Händen der neuen Eltern." (Neill 1969, 163). "Wir müssen auf der Seite des Kindes sein. Und das heißt, dem Kind Liebe zu geben, [...], sich so zu verhalten, daß das Kind sich geliebt und anerkannt fühlt." (Neill 1969, 125). Wie dieses geschehen soll, beschreibt Neill so: "Eltern müssen sich besinnen. Sie müssen sich lossagen vom Haß, der als Autorität und Kritik getarnt ist. Sie müssen die Intoleranz, diese Folge der Furcht, aufgeben. Sie müssen sich freimachen von alten Moralbegriffen und den Urteilen des Mobs. Einfacher gesagt: Die Eltern müssen Individuen werden." (Neill 1969, 126). Für Neills Theorie und Praxis ist ein neuer Mensch erforderlich, der die Erziehung und somit die Gesellschaft verändern kann.


    3. 2. Die Neillschen Erziehungsprinzipien


Die entscheidenden Erziehungsprinzipien Neills sind die der Freiheit und der Selbstbestimmung, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll.

Neills Pädagogik ist durch das Verlangen nach Freiheit und Selbstbestimmung, nach Liebe und Sozialkontakt und nach einem schöpferischen und sinnerfüllten Leben geprägt.


    3. 2. 1. Freiheit


Eine der bedeutendsten Prinzipien seiner Erziehungsstrategie ist die Freiheit. Neill verzichtet auf Autorität zugunsten der Freiheit, womit er vor allem die Autorität der Lehrpersonen und der Eltern meint.

"Es ist falsch, irgend etwas durch Autorität zu erzwingen. Das Kind sollte etwas so lange nicht tun, bis es selbst überzeugt ist, daß es das tun sollte [...] Freiheit heißt, tun und lassen zu können, was man mag, solange die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigt wird." (Neill 1969, 123). "Leben nach eigenen Gesetzen, das ist das Recht des Kleinkindes auf freie Entfaltung, ohne äußere Autorität in seelischen und körperlichen Dingen. Das Kind bekommt zu essen, wenn es hungrig ist, es wird selber sauber und nur, weil es dies wünscht, und es wird weder angebrüllt noch geschlagen, sondern immer geliebt und beschützt." (Neill 1969, 115). "Es sind die Ideen der Nichteinmischung in das Heranwachsen des Kindes und des Verzichts auf jeglichen Druck, die Summerhill zu dem machen, was es ist." (Neill 1969, 103).

Neill weist darauf hin, daß die Ausübung von Autorität unnötig die Freiheit behindert. Eine Welt völliger Freiheit ist eine Welt ohne Zwang, in der, so betont Neill immer wieder, freie Menschen sich selbst bestimmen können. "Im Gedanken der Freiheit verbindet sich die Sehnsucht junger Menschen nach einer glücklichen Zukunft mit den neomarxistischen, anarchistischen Zeitströmungen, die einen Abbau von Privilegien und Autoritäten fordern und die Freiheit von aller Unterdrückung und Fremdbestimmung durchzusetzen suchen." (Emden 1977, 122).

Neill geht davon aus, daß jedes Kind von Natur aus gut ist. Deshalb benötigt es auch eine natürliche Umgebung, in der es seine Freiheit leben kann, um glücklich zu sein. "Wir machten uns also daran, eine Schule zu schaffen, in der die Kinder die Freiheit haben sollten, sie selbst zu sein." (Neill 1969, 22). Neills Parteinahme für das Kind, sein Glaube an das Gute im Kind bewirkte, daß es ihm Freundschaft und Verständnis entgegenbringen wollte.

"David Wills, Homer Lane's biographer, suggested that Neill helped to get a child's-eye view of life, instead of expecting children to see things through adult eyes." (Croall 1983, 390). Neills Prinzip bedeutet, ein Kind allein zu lassen, nicht die Ideen der Erwachsenen auf die Kinder zu transformieren, sondern auf der Seite des Kindes zu stehen und seinem Tun und Handeln zu folgen versuchen. Entscheidend ist, daß ein Kind über eine ausreichende Selbstmotivierung zum Lernen verfügt. Außerdem kann es für sich selbst entscheiden, wann es zu lernen beginnen soll. Das Lernen basiert auf einer speziellen Notwendigkeit. "Never try to learn anything until the not knowing it has come to be a nuisance to you for some time." (Croall 1983, 391). Neill gelangte zu der Überzeugung, daß ein Kind erfolgreich lernen wird, sobald für das Kind ein Grund dafür vorhanden ist. Doch immer wieder betonte Neill, daß Kindheit gleich Spielzeit ist, und so kann es durchaus dazu kommen, daß ein Kind erst in höherem Alter die Notwendigkeit des Lernens erkennt.

Nach Neills Auffassung ist es nur sinnvoll von Freiheit zu sprechen, wenn Freiheit mit gesundem Menschenverstand verbunden ist. Die Freiheit erfährt da ihre Grenzen, wo der Freiheitsanspruch des anderen einsetzt und "destruktive und aggressive Antriebe das Wohl aller in Frage setzen" (Engelmayer 1973, 28).

Die wöchentlichen Schulversammlungen in Summerhill verkörpern seinen zentralen Glauben an die Güte des Kindes und zeigen in praktischer Form die individuellen Grenzen in einer solchen Gemeinschaft; doch die Grenzen, die der Freiheit innerhalb Neills Erziehung gesetzt sind, sind niemals durch die Autorität Erwachsener oder durch normative Vorgaben bestimmt. Zweck dieses wöchentlichen Zusammenkommens der Schüler und Schülerinnen ist, ihnen Freiheit, Verantwortung und Mut zum Diskutieren und zum Treffen von Entscheidungen hinsichtlich des Verhaltens zwischen Erwachsenen und Kindern zu geben.

Die soziale Komponente des Lernens, wie das Lernen des Umgangs mit anderen Menschen, kommt hier zum Vorschein. Kinder, so glaubt er, haben einen Sinn für Gerechtigkeit und zeigen für Taten von Strafanfälligen oftmals bessere Einsicht.


    3. 2. 2. Selbstbestimmung


Innerhalb der sozialen Grenzen von Freiheit und Zügellosigkeit spricht Neill von Selbstregierung bzw. Selbstbestimmung. "Daseinszweck des Kindes ist es, sein eigenes Leben zu führen." (Neill 1969, 30).

Nach Neill ist Selbstbestimmung nur durch Freiheit möglich. "Selbstbestimmung ist ein Verhalten, das aus dem Selbst hervorgeht, das nicht von außen aufgezwungen ist." (Neill 1971a, 11).

Eine Erziehung, deren Zielperspektive die vollkommene, freie Selbstregulierung des Kindes bedeutet, ist nur unter dem absoluten Prinzip der Nichteinmischung in das Heranwachsen des Kindes möglich. Neills pädagogisches Credo besagt: "Die beste Beschäftigung für ein Kind ist die, die es sich selbst sucht." (Masthoff 1981, 62). Voraussetzung ist jedoch der Verzicht auf Autorität. Die spontanen Antriebe des Kindes sind Teil eines natürlichen Selbstentfaltungsprozesses, die in der Weise von den Erwachsenen akzeptiert werden müssen, daß Nicht-Tun, Wachsenlassen, Nicht-Lenken, Nicht-Eingreifen als Leitlinien der pädagogischen Praxis befolgt werden (vgl. Masthoff 1981, 62). Während die Rolle des Erwachsenen sich auf passives Respektieren und Akzeptieren beschränkt, bestimmen ausschließlich die Aktivitäten des Kindes sein Leben.


    3. 2. 3. Glück als Ziel der Erziehung


Höchstes Ziel Neillscher Bestrebungen ist das individuelle Glück. Dieser glückliche Mensch ist jedoch nicht das Produkt einer Gesellschaft, sondern das Resultat der Entfaltung seiner natürlichen und damit "guten" Anlagen.

Für Neill liegt die Aufgabe der Erziehung darin, ein Kind auf das selbständige Leben vorzubereiten. Glück, Aufrichtigkeit, Ausgeglichenheit und Sinn für die Gemeinschaft (vgl. Neill 1969, 98), Zivilcourage und Wohlwollen (vgl. Neill 1971a, 16) sind Eigenschaften, die die Erziehung in Summerhill anstrebt. An gleicher Stelle schreibt er:

"Unser Ziel ist, kurz gesagt, der ausgeglichene Erwachsene, der sich weder in die Dienste des Establishments, noch in die der Demagogie einspannen läßt." (Neill 1971a, 16).

Im folgenden soll näher auf die Dominanz eines der wichtigsten Ziele der Neillschen Pädagogik eingegangen werden, das Ziel des Glücklichseins. Glück, sowohl das persönliche Glück als auch späteres Lebensglück, bildet eine der entscheidenden Grundlagen in Neills Erziehungskonzept.

"Das Ziel des Lebens [besteht] darin, glücklich zu werden." (Neill 1969, 41). Neill sieht die Erziehung also in erster Linie als Hilfe zur individueller Gestaltung eines glücklichen Lebens.

Glück bedeutet für Neill mehr als im herkömmlichen Sprachgebrauch. So ist es also nicht im Sinne von "Glück haben" zu verstehen. Er setzt Glück mit Interessenfindung gleich. Er definiert Glücklichsein als "ein weitgehendes Freisein von Neurose, von konfliktgeladenem Doppelleben [...]. Es ist ein Zustand des Wohlbefindens, der Ausgeglichenheit, des Gleichmuts." (Neill 1971a, 102).

"Das Glück der Kinder sollte der oberste Maßstab für alle Erziehungssysteme sein." (Neill 1971a, 103). Erziehung stellt die Vorbereitung auf das Leben dar und ist somit Vorbereitung auf die Fähigkeit, Interesse zu finden, um dadurch glücklich zu werden, und zwar durch die Sinnerfüllung im Handeln (vgl. Karg 1983, 173). Das Kind muß so erzogen werden, daß es am Leben und an der Welt Interesse finden kann.

Glück wird nach Neill als ein Zustand verstanden, der durch die in der Erziehung erworbene und zur Persönlichkeit gehörende dauernde Lebenseinstellung geprägt ist (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 88).

"Aber gibt es so etwas wie dauerndes Glück? Ich halte es für möglich trotz Leid, Unglück und Tod. Man könnte es gleichsetzen mit moralischem Mut, mit der optimistischen Einstellung zum Leben, mit dem Glauben, daß das Leben lebenswert ist." (Neill 1971a, 103).

Glück steht in keinem Zusammenhang mit moralischer Erziehung. In diesem Sinne kehrt Neill die religiöse Vorstellung "Sei gut und du wirst glücklich sein" um, und sagt: "Sei glücklich und du wirst gut sein" (Neill 1971a, 103).

Das Glück eines Kindes ist abhängig von denen, die seine Erziehung begleiten und beeinflussen; vor allem von den Eltern.

"Ich bitte die Eltern, weiter zu blicken, weit über ihren unmittelbaren Gesichtskreis hinaus. [...] Ich fordere sie auf, ihren Kindern zu sagen, daß diese Welt besser gemacht werden kann und gemacht werden muß, daß sie ihre Energie hier und jetzt einsetzen - nicht für ein fiktives ewiges Leben nachher." (Neill 1969, 228f). Die hier an Vorstellungen der christlich-abendländischen Tradition anknüpfende Kritik macht deutlich, daß Neill weder einen eschatologischen oder einen transzendentalen Glücksbegriff fordert, sondern die Verwirklichung eines glücklichen Lebens und die Verbesserung der Welt.

Das allen anderen Kriterien übergeordnete Ziel ist für Neill das Glück des Einzelmenschen. Ausgeglichenheit und Aufgeschlossenheit sind wichtige Eigenschaften, die einen glücklichen Menschen beschreiben. Nach Neill kann ein Mensch nur glücklich und ausgeglichen sein, weil er auch die zum Leben gehörenden unglücklichen Erfahrungen und Erlebnisse akzeptieren muß. Es darf nicht der Fehler gemacht werden, ein schwieriges Kind als ein unglückliches anzusehen. "Es ist im Widerstreit mit sich selbst; daher lebt es auch mit der Welt im Kampf." (Neill 1969, 19). Das gleiche gilt für Erwachsene: "Ein glücklicher Mensch hat sich noch nie zum Störenfried ergeben, Krieg gepredigt oder einen Neger gelyncht. Eine glückliche Frau nörgelt nicht an ihrem Mann oder ihren Kindern herum, kein glücklicher Mann hat jemals einen Mord oder Diebstahl begangen. Ein glücklicher Chef terrorisiert seine Angestellten nicht." (Neill 1969, 90). Hier wird ein weiteres wichtiges Ziel der Neillschen Pädagogik sichtbar: der Sinn für Gemeinschaft. Darunter versteht Neill, die Fähigkeit, "ein gutes Mitglied der Gemeinschaft zu sein" (Neill 1969, 191). Toleranz, die auf zwischenmenschliche Beziehungen beruht, ist sein Erziehungsziel. Hierunter versteht er die Fähigkeit, sich in die Situation des anderen hineinversetzen zu können.

Der nun folgende Aspekt beschäftigt sich mit dem Einsetzen des soeben erklärten Gemeinschaftsgefühls. Nachdem ein Kind zur Selbstbestimmung durch seine freie Erziehung herangeführt werden konnte, entwickelt sich ein Gefühl für den Gemeinschaftssinn, da es gelernt hat, Liebe zu geben und mit seiner großzügigen Freiheit auch der Gemeinschaft dienlich zu sein. Neill ist der Überzeugung, daß ein glücklicher Mensch seinem Gegenüber keinen Schaden zufügt, sondern Achtung schenkt.

Abschließend bleibt festzuhalten, daß Zivilcourage, Aufrichtigkeit, Wohlwollen, Selbstvertrauen, Furchtlosigkeit und Gemeinschaftssinn entscheidende Elemente sind, die eine Erziehung in Neill's Sinne beschreiben. Nach Neill ist der Erfolg des Lebens "die Fähigkeit, mit Freude zu arbeiten und ein erfülltes Leben zu führen" (Neill 1969, 46). Um dieses Ziel verwirklichen zu können, muß dem Individuum das größte Maß an innerer und äußerer Freiheit gewährt werden.

Nach Neill ist die eigentliche Bestimmung des Menschen, im Einklang mit sich selbst, seiner näheren Umgebung und der Welt zu leben. Dieses Ziel wird von ihm mit dem Begriff des "Glücklichsein" umschrieben. Danach soll die Welt so verändert werden, daß der Einklang des Menschen mit der Welt aus dem Einklang des Menschen mit sich hervorgeht - ein Verhältnis, das bewußt und durchdacht durch die Erziehung aufgebaut werden muß (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 92).


    3. 3. Die antiautoritäre Erziehungskonzeption


In der antiautoritären Erziehungskonzeption Neills geht es um die Befreiung der Pädagogik von Intoleranz und moralischem Zwang (vgl. Neill 1969, 131; Neill 1972, 15). Sie richtet sich gegen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, denen es um die Formung des Menschen im Sinne bestimmter weltlicher oder religiöser Ideologien geht (vgl. Neill 1969, 120). Folglich fordert die Neillsche Pädagogik eine unabhängige Erziehungslehre als Wissenschaft, die einzig auf der menschlichen Erfahrung und Vernunft begründet ist.

An dieser Stelle ist anzumerken, daß es sicherlich nicht einfach ist, Neills Vorstellung von antiautoritärer Erziehung darzustellen, da sein Werk keine abgeschlossene Abhandlung einer pädagogischen Theorie ist. Vielmehr verbinden sich theoretische Fragmente mit zahlreichen Einzelbeobachtungen, täglichen Erziehungserfahrungen und Fallbeispielen zu einem Ganzen. Diese Vorgehensweise hat in der Auseinandersetzung während der sechziger und siebziger Jahre wiederholt zur Annahme geführt, Neill verfüge über keine Theorie der antiautoritären Erziehung. Ein systematisches Vorgehen ist in der Weise sichtbar, daß Neill zunächst beobachtet und handelt, um dann allgemeine Aussagen zu formulieren oder allgemeine Aussagen werden in der Folgezeit in der Praxis am individuellen Einzelfall überprüft (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 93).

"Der Großteil dessen, was ich geschrieben habe, beruht auf Erfahrungen mit den Kindern, die bei mir lebten. Es ist wahr: Freud, Homer Lane und andere haben mich beeinflußt. Aber mit der Zeit habe ich auch Theorien über Bord geschmissen, wenn sie der Prüfung durch die Wirklichkeit nicht standhielten." (Neill 1969, 101).

Wenn man Neills Werke studiert, fällt dem Leser die einfache, allgemeinverständliche Sprache auf. Fast ausnahmslos verzichtet er auf die Verwendung von Fachtermini, so daß Eltern aller Bevölkerungsschichten - und Neill möchte prinzipiell alle ansprechen (vgl. Neill 1969, 19) - sich mit seinen Erziehungsschriften auseinandersetzen können. Für ihn ist die Erziehungspraxis und die damit verbundene theoretische Umsetzung von zentraler Bedeutung, wodurch sein Erziehungswerk einem größeren Leserpublikum zugänglich gemacht werden kann, da es für Laien verständlich ist.

Im folgenden soll näher auf seine grundlegenden Aspekten seiner antiautoritären Erziehungskonzeption eingegangen werden. Auf diese Weise kann außerdem deutlich gemacht werden, was einen antiautoritären Erzieher kennzeichnet.


    3. 3. 1. Die Rolle der Macht


Es liegt in der Natur der Sache, daß in der Erziehung - sofern hiervon die Rede sein kann - Unterschiede zwischen dem Erzieher und dem Erziehenden bestehen. Das Kind trifft vom Augenblick seiner Geburt an auf Situationen, in denen ihm Personen begegnen, die ihm notwendigerweise von Anfang an eine Überlegenheit entgegenbringen werden (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 97). Neill spricht auf der einen Seite vom "Wissen der Eltern, [das] das durchschnittliche Kind akzeptiert" (Neill 1969, 162) und von der konfliktreichen Schwächesituation des Kindes auf der anderen Seite. "Jedes Kind möchte groß sein. Alles in seiner Umgebung erinnert es daran, daß es klein ist." (Neill 1969, 284). Weiter behauptet Neill: "Schon durch die körperliche Größe eines Erwachsenen bekommt das Kind Minderwertigkeitsgefühle." (Neill 1969, 288). Diese Ungleichheit zwischen Erzieher und Erziehenden ist Neill sehr wohl bekannt, trotzdem fordert er prinzipielle Gleichheit und Gleichberechtigung (vgl. Neill 1969, 117), ein Stehen auf der gleichen Stufe (vgl. Neill 1969, 26) und daß der Vater nicht "Herr im Hause" (Neill 1969, 138), sondern der "Kamerad" des Sohnes sein soll (Neill 1969, 137).

An dieser Stelle halte ich es für angebracht, die Bedeutung der soeben gefallenen Begriffe wie Gleichheit und Ungleichheit im Sinne der antiautoritären Pädagogik näher zu betrachten.

Neill spricht von einer Gleichheit zwischen Erzieher und Heranwachsenden, wenn es um die gegenseitige Achtung vor der Individualität und Persönlichkeit des einzelnen geht (vgl. Neill 1969, 163); als eine "grundsätzlich veränderliche Größe" (Schmidt-Herrmann 1987, 98) definiert Neill die Ungleichheit bezüglich des unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsvorsprung zwischen Eltern und Kinder. Das bedeutet zugleich, daß die schwächere und abhängigere Position des Kindes nicht zusätzlich durch die Eltern verstärkt werden darf, damit das kindliche Minderwertigkeitsgefühl nicht stärker ausgeprägt werden kann. "Wenn wir die Kinder stärker auf ihre Fehler aufmerksam machen, bringen wir ihnen Minderwertigkeitsgefühle bei. Wir verletzen ihre natürliche Würde." (Neill 1969, 163). Diese Gefahr besteht, wenn - unbewußt oder bewußt - Macht oder Herrschaft ausgeübt wird, beispielsweise durch Strafen, Schläge oder moralische Zurechtweisung. In der konsequenten Ablehnung des Gebrauchs von Bestrafung oder anderer Machtmittel, dort, wo das Kind den erzieherischen Einflüssen aktiven Widerstand entgegenbringt, liegt die Begründung, Neills Erziehungstheorie antiautoritär zu nennen. Dies bedeutet sicherlich nicht, daß der Erzieher alles bejahen muß, was das Kind tut, sondern daß das Kind für seine Taten nicht als Person beurteilt, abgelehnt oder bestraft wird (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 98). Hier wäre es denkbar, die Ursache von unerwünschten Taten aufzudecken, was wiederum den Aspekt der "notwendigen Autorität" zur Folge hätte. Dieser Gesichtspunkt soll jedoch an anderer Stelle bearbeitet werden.


    3. 3. 2. Freiwilligkeit als konstitutive Bedingung der durch Freiheit geprägten Erziehung


Wie bereits unter Punkt 3.2.1 erläutert, kann sich das Kind entsprechend Neills anthropologischem Ansatz nur in Freiheit entwickeln. Diese Freiheit kann nur durch eine repressionsfreie Erziehung erreicht werden, die als Ziel das Glück des Einzelnen anstrebt. Das Prinzip der Freiheit in Summerhill schließt die Freiwilligkeit, dort zu leben, mit ein. Neill vertritt die Auffassung, daß Freiheit nicht auf Kosten des anderen geht, sondern daß nur derjenige die Freiheit des anderen achten kann, der die Freiheit an sich selbst erlebt hat. Neill behauptet, daß sich das Kind im Schutz der Freiheit gerne und freiwillig an den Aufgaben des Lebens beteiligt. Ferner strebt das Kind generell eine Übereinstimmung bzw. eine soziale Anerkennung mit den Erziehern an. Neill schreibt dazu: "Da soziale Anerkennung etwas ist, das jeder wünscht, lernt das Kind, sich anständig zu verhalten." (Neill 1969, 161).


    3. 3. 3. Verantwortung und Freiheit


Das englische Wort für Verantwortung, responsibility, kommt vom lateinischen respondere und bedeutet "antworten". "Ein Mensch, der auf das, was ihm gegenübersteht, antwortet, ist verantwortlich." (Schmidt-Herrmann 1987, 133). Antworten sind im psychologischen Sinne alle Lebensäußerungen, mit denen der Mensch seinen Charakter zum Ausdruck bringt. Nach Neill wird dieser durch die Erziehung ausgebildet, demnach soll der Mensch fähig sein, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

Wichtigste Voraussetzung zur Übernahme von Verantwortung ist die Anpassung an das Alter und an seine psychische und physische Entwicklung. Immer wieder besteht die Gefahr, daß die Eltern ihre Kinder davon abhalten, Verantwortung zu übernehmen, statt dessen werden ihnen Dinge aus der Hand genommen, die sie durchaus eigenständig ausführen können. In diesem Zusammenhang erwähnt Neill, daß auch jüngere Kinder durchaus mit als gefährlich angesehenen Werkzeugen, wie beispielsweise Äxten, Messer und Sägen, umgehen können, ohne sich zu verletzen (vgl. Neill 1969, 156). Gerade solch ein Beispiel ermuntert viele Erzieher, zu intervenieren. Dadurch wird jedoch nach Neill die Bildung von Selbstvertrauen behindert und der Tätigkeitsdrang des Kindes eingeschränkt (vgl. Neill 1969, 165f). Er meint daher: "Man sollte den Kindern erlauben, beinahe uneingeschränkt eigene Verantwortung zu tragen." (Neill 1969, 156).

Auf der anderen Seite gibt es sicherlich Situationen, in denen Kinder die Verantwortung für Entscheidungen aufgrund von mangelnden Erfahrungen oder Kenntnissen nicht abverlangt werden kann. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, ob ein Kind im Krankheitsfall die Medizin einnehmen möchte, da hier der Schutz des Kindes wichtigere Bedeutung zukommt.

"Man sollte einem Kind nie eine Verantwortung übertragen, für die es noch nicht reif ist. Man sollte aber auch wissen", ergänzt Neill, "daß viele Gefahren, in die ein Kind gerät, nur eine Folge falscher Erziehung sind. Einem Kind, das mit Feuer spielt, hat man eben noch nicht die Wahrheit über Feuer gesagt." (Neill 1969, 132).

An anderer Stelle faßt er in ähnlichem Sinne zusammen: "Im großen und ganzen sollten die Eltern dem Kind soviel Verantwortung wie möglich übertragen, wobei sie auf körperliche Sicherheit achten müssen. Nur so kann das Kind Selbstvertrauen entwickeln." (Neill 1969, 157).

Eine Übertragung von Verantwortung durch den Erzieher soll nach Neill nur dann geschehen, wenn das Kind Handlungen aufgrund von körperlichen und geistigen Fähigkeiten selbst bewältigen kann. Es ist Neill sehr daran gelegen, den spontanen Wunsch des Kindes nach Aktivität und seinen eigenen Bemühungen zu unterstützen.

In Summerhill ist es die Selbstverwaltung, die die Kinder veranlaßt, eigenständig Verantwortung zu übernehmen.


    3. 3. 4. Liebe und Anerkennung


"Glück und Wohlergehen des Kindes hängen von dem Grad unserer Liebe und Anerkennung ab. Wir müssen auf der Seite des Kindes sein. Und das heißt, dem Kind Liebe zu geben - keine besitzergreifende, keine sentimentale Liebe, sondern sich so zu verhalten, daß das Kind sich geliebt und anerkannt fühlt." (Neill 1969, 125).

Die Liebe, die Neill meint, erkennt das Kind so an, wie es ist, nicht, wie es nach Meinung der Erwachsenen sein sollte (vgl. Neill 1969, 131). "Die Anerkennung eines Erwachsenen bedeutet für jedes Kind Liebe." (Neill 1969, 128). Sie zeigt sich vor allem darin, daß das Kind sich verstanden fühlt, beziehungsweise, daß der Erzieher das Kind versteht, d.h. dessen Fehler als Irrtümer sieht und sie in keiner moralischen Weise korrigiert werden (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 125). In diesem Fall kann nicht die Rede von gut oder böse sein, sondern kindliche Fehltritte müssen als "eine subjektiv sinnvolle und aus der Lebensgeschichte des Kindes verstehbare Handlungsweise interpretiert werden" (Schmidt-Herrmann 1987, 125). Zur Unterstreichung dieses Zusammenhangs weist Neill den Begriff Liebe zurück und zieht Homer Lane's Auffassung von "auf-der Seite-des-Kindes-sein" vor, d.h. Anerkennung, Zuneigung, Freundlichkeit und das Fehlen jeglicher Erwachsenenautorität.

Zwischen dem Prinzip der Freiheit und dem Erziehungsgrundsatz der Liebe besteht eine untrennbare Verbindung. "In einer freien Schule ist Liebe der wichtigste Faktor." (Neill 1969, 60). Freie Erziehung kann ohne Liebe demnach nicht zum Wohlergehen eines Kindes führen.

Die einzige Form der Disziplin, die Neill bejaht, ist die Selbstdisziplin. Diese Art von Disziplin kann nach Neill nur dann erworben werden, wenn die oben genannten Voraussetzungen erfüllt werden. Ein Kind, dem aufrichtig Liebe entgegengebracht wurde, ist in der Lage, Versagen in seinem interessierten Tun zu akzeptieren, auch wenn es zunächst enttäuscht sein wird. Es ist die Fähigkeit des Erziehers, das Kind anzuerkennen und zu verstehen, die eine deutliche Unterscheidung zwischen Freiheit und Zügellosigkeit ermöglicht.

Das Vertrauensverhältnis in Summerhill ist für Neill ein sehr wichtiges Element. "Es hängt alles vom Vertrauen zu den Kindern ab." (Neill 1969, 126). Insbesondere bei Problemfällen, wie beispielsweise verwahrlosten oder bei schwierigen Kindern wie Brandstiftern, Dieben, Lügnern oder jähzornigen Kindern, ist es unerläßlich, ein pädagogisches Verhältnis zu den Kindern herzustellen, in dem das Kind miterlebt, daß der Erwachsene zu ihm steht. Das Gesagte soll an dieser Stelle anhand des konkreten Beispiels eines verwahrlosten Kindes näher beleuchtet werden. Es war aufgrund einer lieblosen und autoritären Erziehung laut Neill mit starken Belastungen in seinem bisherigen Leben konfrontiert worden, so daß es nicht nur einen tiefen Haß gegen die Erwachsenen entwickelt hatte, sondern auch gegen die Gesellschaft. Zucht, Strenge und Strafen waren die Methoden, die sein Heranwachsen am meisten begleitet hatten. Neill schreibt in diesem Zusammenhang: "Ich habe noch nie davon gehört, daß jemand durch Gewalt, Grausamkeit und Haß zu einem guten Menschen geworden wäre." (Neill 1969, 261). Das Kind braucht also Liebe; seine seelische Gesundheit verlangt geradezu Liebe. Diese Liebe kann nach Neill auch nur durch Liebe gelehrt werden. "Kinder sind weise. Auf Liebe antworten sie mit Liebe und auf Haß mit Haß. Sie fügen sich leicht einer Mannschaft ein." (Neill 1969, 162). Das Erziehungsklima absoluter Freiheit soll in Summerhill bewirken, das gerade schwer erziehbare Kinder zum einen wieder Vertrauen in Erwachsene fassen und zum anderen in ihnen ein Bedürfnis nach Liebe geweckt wird. Nach Schmidt-Herrmann (1987, 126) taucht hier jedoch das Problem auf, daß der Jugendliche den Erwachsenen als Gegner sieht, da er die Gesellschaft repräsentiert. Deshalb meint Neill, daß das Verhalten des Erziehers so beschaffen sein muß, daß der Jugendliche in ihm einen Menschen sieht, der genauso fühlt und denkt wie er, der gleichzeitig aber über die Situation hinausschaut, damit er ihm einen besseren Weg zeigen kann als den bisher gegangenen. Dieses Vorgehen bezeichnet Neill als die Methode der Liebe. Was für den Verwahrlosten gilt, ist auch für jedes andere Kind gültig. "Anerkennung ist für normale Kinder ebenso wichtig wie für problematische. Allen Eltern und Lehrern muß Anerkennung als oberstes Gebot gelten." (Neill 1969, 127). Vertrauen und Achtung sind Fähigkeiten, die ein Erzieher dem Heranwachsenden entgegenbringen muß, aber ein Erzieher darf einem Problemkind nicht mehr zumuten, als es verkraften kann. Neill empfiehlt, sich mit der Lebensgeschichte eines solchen Kindes intensiver zu beschäftigen. Allerdings warnt er auch davor, sich etwas vormachen zu lassen. Taktisches Vorgehen ist gefragt, wobei das Vertrauen nicht verloren gehen darf (vgl. Neill 1969, 269). Neill berichtet häufig von Beispielen, in denen er das Vertrauen von Jugendlichen gewonnen hat, nachdem er ein Vergehen aufgedeckt hatte, wie man es nicht erwartet hätte. Um dieses Phänomen besser verstehen zu können, halte ich es für ratsam, ein konkretes Beispiel anzugeben, das Neills Grundansichten deutlich werden läßt.

"Einmal wurde ein junger Bursche zu mir geschickt, ein wirklicher Taugenichts, der auf raffinierte Weise stahl. Eine Woche nach seiner Ankunft telephoniert man mir aus Liverpool. ,Hier spricht Mr. X. [...] Ich habe einen Neffen in Ihrer Schule. Er hat schriftlich bei mir angefragt, ob er mich auf ein paar Tage in Liverpool besuchen dürfe. Haben Sie etwas dagegen?' - ,Nicht das geringste', entgegnete ich. ,Aber er hat ja kein Geld. Wer wird die Reise bezahlen? Vielleicht setzen Sie sich mit seinen Eltern in Verbindung'. Am folgenden Nachmittag läutete mir die Mutter des Burschen an und sagte, sie haben einen Anruf von Onkel Dick gehabt, und was sie betreffe, könne der Junge ruhig fahren. Sie habe sich erkundigt, die Fahrkarte koste 28 Shilling, und ob ich ihm also 2 Pfund 10 Shilling vorstrecken wolle? Beide Anrufe hatte Arthur selbst vom Ortsautomaten aus bewerkstelligt, und die Nachahmung der Stimme eines alten Onkels war vollkommen. Es gelang ihm auch, mich reinzulegen; denn ich gab ihm das Geld, ehe ich den Betrug merkte. Danach sprach ich mit meiner Frau, und wir waren uns einig, daß es das Falscheste wäre, das Geld von ihm zurückzuverlangen; denn genau das war ihm vor Jahren widerfahren. Meine Frau kam auf die Idee, ihm noch mehr zu geben, und ich war einverstanden. Also ging ich später in der Nacht noch in sein Schlafzimmer. ,Du hast Glück heute', sagte ich fröhlich. ,Allerdings', antwortete er. ,Ja, aber du hast mehr Glück, als du weißt', fuhr ich fort. ,Was heißt das?' ,Nun, deine Mutter hat mir soeben wieder angeläutet', sagte ich leichthin. ,Sie sagte, sie habe sich im Preis der Fahrkarte geirrt, sie kostet nicht 28, sondern 38 Shilling. Deshalb hat sie mich gebeten, dir noch zehn Steine mehr zu geben.' Damit warf ich ihm mit leichter Hand einen Zehn-Shilling-Schein aufs Bett und ging, ehe er etwas erwidern konnte. Er fuhr am nächsten Morgen nach Liverpool und hinterließ einen Brief, der mich nach seiner Abfahrt ausgehändigt werden sollte. Darin stand: ,Lieber Neill, ich merke, daß du ein noch besserer Schauspieler bist als ich'. Und noch wochenlang danach fragte er mich, warum ich ihm den Zehn-Shilling-Schein gegeben hätte. Ich wiederum wollte von ihm wissen: ,Wie war dir denn zu Mute, als ich ihn dir gab?' Er dachte einen Augenblick lang scharf nach und sagte dann: ,Weißt du, das war das größte Erlebnis, daß ich bis jetzt hatte. Ich sagte mir: ,Das ist der erste Mensch, der auf meiner Seite steht'." (Neill 1972, 65).

Mit diesem Beispiel wird nun deutlich gemacht, daß weder moralische Zurechtweisung noch Strafen kindlichen Untaten folgen dürfen. Wie bereits erwähnt, handelt Neill aufgrund eines Menschenbildes, das angeborene schlechte Neigungen verneint.

Ein weiteres wichtiges Element seiner Erziehung ist der Humor, der nach Neill einen Indikator für Zuneigung darstellt. Um mit Kindern erfolgreich umzugehen, müsse man nicht nur ihre Gefühle und Gedanken verstehen, sondern auch Sinn für Humor haben (vgl. Neill 1969, 195). Gemeinsames Scherzen bedeute für das Kind Bejahung, Liebe, Kameradschaft und Gleichheit (vgl. Neill 1969, 194), was folglich zu einer lockeren Beziehung zwischen Erzieher und Kind führt. Es gibt jedoch auch eine Form des Humors, die ernste Fragen des Lebens zu überdecken versucht, weil es leichter ist, über eine Sache zu lachen, statt sich mit ihr auseinanderzusetzen (vgl. Neill 1969, 194). "Man soll ein Kind nie zur falschen Zeit humorvoll behandeln oder seine Würde angreifen. Wenn es wirklich Grund hat zum Klagen, muß man es erst nehmen." (Neill 1969, 196).


    3. 3. 5. Sexualität als Grundlage der Persönlichkeit


Sexualität ist nach Neill ein wesentlicher Faktor, der die Persönlichkeitsentwicklung beeinflußt. Das Kind muß von Geburt an lernen, seinen Körper als etwas Schönes und Angenehmes zu empfinden. Für die Kindererziehung bedeutet dies nun, daß man dem Kind die Möglichkeit geben muß, sich mit seinem ganzen Körper beschäftigen zu können. Eine Unterteilung des Körpers in erlaubte und unerlaubte Berührungszonen darf nicht vorgenommen werden, da zum Körper eben auch jene Organe gehören, die als besonders lustvoll empfunden werden. "Sie müssen beim Namen genannt werden wie Arme, Beine und Kopf und dürfen nicht mit dem Schleier des Geheimnisses, Schmutzes und Tabus umgeben werden." (von Bönninghausen, Dreisbach-Olsen 1973, 28). Neill fordert eine ungezwungene Bejahung des menschlichen Körpers.

Sexuelle Aufklärung im Sinne Neills heißt, die Fragen der Kinder aufrichtig und ohne falsche Moral zu beantworten. Die rein biologischen Zusammenhänge sowie der emotionale Bereich dürfen nicht unausgesprochen bleiben. Auch Onanie muß als eine Form der sexuellen Befriedigung akzeptiert werden. Verbote und das Hervorrufen von Schuldgefühlen wirken sich nicht nur nachhaltig auf die Entwicklung der kindlichen Sexualität sondern auch auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung aus (vgl. von Bönninghausen, Dreisbach-Olsen 1973, 29). Furcht und Selbsthaß sind die daraus folgenden Konsequenzen. Demnach fordert Neill ein Klima, in dem Sexualität nicht als etwas nicht Schmutziges gilt.

Was versteht nun Neill unter sexueller Aufklärung des Kindes?

Von grundlegender Bedeutung ist die gesunde Einstellung zur Sexualität. Es geht hier um die bereits erwähnte natürliche Bejahung des menschlichen Körpers, die natürliche Haltung der Eltern zu den Fragen der Masturbation und der kindlichen Sexspiele. Einen weiteren Teil der geschlechtlichen Erziehung bildet die Beantwortung von Fragen. Man beantworte erstens jede Frage wahrheitsgemäß und zweitens ohne Hemmungen (vgl. Neill 1969, 209f), d.h., daß das Wissen bezüglich Sexualität wie jedes andere Wissen angesehen werden sollte und die sich darauf beziehenden Fragen durch Offenheit, Natürlichkeit und Unbefangenheit charakterisiert werden sollen (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 144). Nur wenn "jedes Anzeichen von Scham, Scheu und Moralgefühl" (Neill 1969, 209) ausgeschaltet ist, kann die sexuelle Aufklärung Teil der natürlichen Kindheit werden.


    3. 4. Die Befreiung des Kindes


    3. 4. 1. Das unfreie Kind


Zunächst möchte ich mich der Frage zuwenden, was ein unfreies Kind auszeichnet.

"Ein solches Kind ist fügsam, gehorcht der Autorität aufs Wort, fürchtet sich vor Kritik und wünscht fast fanatisch, normal, konventionell und korrekt zu sein. Es nimmt alles, was ihm beigebracht wird, beinahe ohne Frage hin und wird all seine Komplexe, seine Ängste und seine Frustration an die eigenen Kinder weitergeben." (Neill 1969, 112). Neill betrachtet ein unfreies Kind als Produkt "unfreier Erziehung" (vgl. Neill 1969, 110). Es ist abgerichtet, geformt und gehemmt (vgl. Neill 1969, 103), weil es in bedeutsamen Bereichen seiner Charakterentwicklung diszipliniert wurde. Diese Disziplin beginnt bei der Einhaltung eines Zeitrhythmus' während der Stillzeit und führt von der Prozedur der Sauberkeitserziehung und der Stellungnahme zum Spiel mit den Genitalien bis zum Schuleintritt, wo es zum Lernen gezwungen wird. Die Eltern solcher Kinder beschreibt Neill als " ... im allgemeinen sittsame, freundliche Leute, voll kindischen Glaubens und Aberglaubens, voll kindlichen Vertrauens und kindlicher Hingebung. Sie sind mit ihresgleichen die braven Staatsbürger, die die Gesetze machen und Menschlichkeit verlangen. Sie bestimmen, daß Tiere auf humane Weise getötet und daß Haustiere ordentlich gepflegt werden müssen. Doch wenn es um die Unmenschlichkeit des Menschen geht, machen sie schlapp. Gedankenlos billigen sie ein grausames, unchristliches Strafrecht, billigen sie den Mord an anderen Menschen in einem Krieg als Naturereignis." (Neill 1969, 113). Aufgrund dieser Erziehung werden Haß und Strafe auch an die nachfolgende Erziehung weitergegeben und so werden aus gestraften Kindern strafende Mütter und Väter (vgl. Neill 1969, 113). Schon früh in der Kindheit wird es durch die elterliche Aggression beeinflußt, gegen die es sich jedoch wehren kann, indem es den Kampf gegen seine Erzieher ansagt und in verschiedenen Formen versucht, seine Gewalt zu brechen oder zu umgehen (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 113). Eine aus dieser Art von Erziehung resultierende Reaktion ist die Trotzreaktion. Nach Neill werden aus trotzigen Kindern trotzige Erwachsene, die Schwierigkeiten haben, in ihrer Umwelt zu leben.

Wird jedoch die Aussage von Eltern betrachtet, wie folgsam ihre Kinder seien und sozusagen aufs Wort gehorchen, scheint - oberflächlich betrachtet - eine autoritäre Erziehung gerechtfertigt zu sein, wenn der strenge Erzieher erfolgreich behaupten kann, daß sich sein Kind seinen Aufforderungen willig fügt (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 113). Nach Neills Behauptungen ist dieser Erfolg jedoch nur durch eine Kurzlebigkeit gekennzeichnet und beeinträchtigt die kindliche Spontaneität, Aufrichtigkeit, Offenheit und Lebensfreude nachhaltig. Brave und gehorsame Kinder, die häufig einen tiefen Haß in sich tragen, fügen sich, um lediglich ihre aggressiven Neigungen, welche durch die Gewaltanwendung der Erzieher verursacht wurde, zu überspielen. Neill glaubt, daß sobald dieser erzieherische Einfluß erlischt, die Bravheit zusammenbricht und Protest, Trotz und Unaufrichtigkeit zutage treten. Neill beobachtete dieses Phänomen oft an neuen Schülern und Schülerinnen, die an anderen Schulen nicht zurechtkamen.


    3. 4. 2. Das freie Kind


Die Freiheit, von der Neill spricht, ist eine "individuelle, innere" Größe (Neill 1972, 22). Es ist die positive Verwirklichung einer individuellen Persönlichkeit, die gelernt hat, ihre intellektuelle, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen, wobei nach Neill der emotionale Faktor überwiegt. Demnach sind freie Menschen "innerlich frei [...], frei von Angst, von Heuchelei, von Haß und von Intoleranz [...] vor Vorurteilen und von der Lebensverneinung" (Neill 1972, 22). Diese Kinder sind dadurch gekennzeichnet, daß sie nach ihren eigenen Gesetzen leben und sich frei entwickeln, und zwar ohne äußere Autorität.

Das freie Kind ist nicht nur in Abwesenheit seines Erziehers ungezwungen, sondern auch in seiner Gegenwart (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 115). Sein Interesse gilt nicht, der Beeinträchtigung der Freiheit des anderen, sondern "Achtung voreinander zu haben und persönliche Eigenschaften anzuerkennen" (van Dick 1979, 114). Das Ergebnis dieser von Zügellosigkeit unterschiedenen Freiheit ist Selbstdisziplin. Unter Selbstdisziplin versteht Neill die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und seine Rechte zu respektieren.

Das freie Kind kann nur Produkt eines Erziehungsklimas sein, das frei von Bevormundung und Unterdrückung ist, d.h. einer freien Familie. Es handelt sich hierbei um eine Familienerziehung, die eine häusliche Situation aufweist, in der die Heranwachsenden nicht den Wunsch haben zu rebellieren oder die elterliche Autorität zu mißachten (vgl. Neill 1973, 22).

Was versteht Neill nun unter einer freien Familie im positiven Sinne?

  1. Zwischen Kind und Eltern besteht ein gleichberechtigtes Verhältnis, d.h. daß die Individualität und Persönlichkeit des Kindes in gleicher Weise respektiert wird wie die des Erwachsenen (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 116). In einer solchen Familie stehen Eltern und Kind auf "freundschaftlichem Fuße" (Neill 1973, 23).

  2. Die Eltern üben durch ihre Autorität keine Macht und keinen Zwang aus. In diesem Zusammenhang sagt Neill: "Die [...] Regel sollte sein: Ich werde mein Kind nicht nach meinem Ebenbild formen. Ich bin nicht gut genug, nicht weise genug, um einem Kind zu sagen, wie es leben soll." (Neill 1973, 22).

  3. Auch in einer dem Kind vorgegebenen Religion sieht Neill einen unzulässigen Zwang. Dem Mensch sollte im heranwachsendem Alter die Entscheidung über die Glaubenswahl selbst überlassen werden. Neill fordert die Eltern demnach auf, ihre eigene Religion ihren Kindern nicht aufzuwingen (vgl. Neill 1973, 22).

  4. Die Sexualität, beziehungsweise die sexuelle Aufklärung, gilt als natürlicher Bestandteil der Erziehung. Die Kinder sehen ihre Eltern nackt, das Thema "Sexualität", insbesondere die Onanie, gilt nicht als Tabu (vgl. Neill 1973, 23f).

Neill faßt seine Gedanken zur freien Familie wie folgt zusammen:

"Ich behaupte nicht, in einer solchen Familie könnten die Kinder tun und lassen, was sie wollten. Die Erwachsenen haben ihre Rechte. Der Vater muß energisch sagen, er wünsche nicht, daß sein Wagen beim Spielen als Räuberhöhle benutzt wird. Mutter hat das Recht zu sagen, daß sie nicht wünscht, daß Mary ihre besten Pfannen benutzt [...]. Da herrscht faires Geben und Nehmen, und wenn zwischen allen Familienmitgliedern ein liebevolles Verhältnis besteht, hinterlassen solche kleinen Unstimmigkeiten weder Haß noch Groll." (Neill 1973, 23).


    3. 5. Autorität in der antiautoritären Erziehung A.S. Neills


Es scheint unsinnig zu sein, Autorität in der Theorie und Praxis eines Erziehungskonzepts zu suchen, das als anti-autoritär verstanden werden soll. Es ist jedoch verfehlt, Neills Erziehungskonzept als absolut antiautoritär anzusehen, wenn unter "antiautoritär" der Verzicht auf jegliche Autorität verstanden wird (vgl. Weber 1974, Hilber 1971, Karg 1983). Hilber bezeichnet Neills Erziehungskonzept als eine autoritätsreduzierende, demokratische Erziehung. Teilweise spricht Neill selbst von einer "notwendigen Autorität" der sich das Kind fügen muß, wobei er darunter "Schutz, Fürsorge, Verantwortung der Erwachsenen" versteht (Neill 1969, 158).

Freiheit bedeutet für Neill nicht Zügellosigkeit. "Freiheit aber, die keine hemmungslose, von Autoritätsphobie angekränkelte Willkür ist, schränkt den Spielraum einer scheinbar absoluten Freiheit sinnvoll ein." (Hilber 1971, 377). Das Kind schränkt sich nach Neill selbst ein, da es die Grenzen zwischen Freiheit und Zügellosigkeit selbst zu erkennen vermag. Jedes Individuum hat die Freiheit, das zu tun, was es will, solange es die Freiheit des anderen nicht beeinträchtigt. In der Praxis gibt es Autorität. In der anti-autoritären Erziehung macht sich - so wie bereits oben erwähnt - notwendige Autorität bemerkbar, nämlich dort, wo es um körperliche Sicherheit geht.

"Freiheit bedeutet in Summerhill nicht die Abschaffung des gesunden Menschenverstandes. Wir sorgen in jeder Weise für die Sicherheit der Schüler. Die Kinder dürfen nur in Anwesenheit von Rettungsschwimmern baden [...]. Schüler unter elf dürfen nicht allein auf öffentlichen Straßen fahren. Diese Bestimmungen sind von den Schülern selbst in der Schulversammlung durchgesetzt worden." (Neill 1969, 38).

Hier wird deutlich, was Neill unter Autorität versteht: Es handelt sich nicht um autoritär gesetzte Verbote, sondern um in der Gemeinschaft diskutierte, "autoritative Gebote" (Hilber 1971, 379), die den Einzelnen aufgrund demokratischer Zustimmung bindet. Durch rationale Argumentation wird Autorität vor und von der Gemeinschaft legitimiert, von der sie natürlich auch wieder in Frage gestellt werden kann. Sie wird nicht aufoktroyiert (vgl. Hilber 1971, 379). Durch die Einsicht, daß Autorität bei Verstößen notwendig ist, erfährt die Schulversammlung Legitimation auch dann, wenn Entscheidungen den eigenen Wünschen widerlaufen. "Unsere kleine Demokratie gibt sich selbst ihre Gesetze - auch gute." (Neill 1969, 61). Allerdings, und das gibt Neill offen zu, ist die Selbstregulierung an das Alter der Schüler und Schülerinnen gebunden. Ein erfolgreiches Funktionieren ist erst dann möglich, wenn einige ältere Schüler und Schülerinnen da sind, die für die Jüngeren als eine das Gruppenleben regulierende Autorität fungieren (vgl. Neill 1969, 61).

Es gibt Gefahrensituationen, in die sich das Kind aus Unwissenheit oder Unerfahrenheit begeben kann, vor denen der Erwachsene es zu schützen hat. Neill schreibt in diesem Zusammenhang: "Natürlich gibt es Grenzen der Ungezwungenheit. Wir können einem sechs Monate alten Kind nicht erlauben, selbst herauszufinden, daß eine Zigarette wehtun kann. Aber auch da sollte man die Gefahr ohne viel Aufhebens beseitigen." (Neill 1979, 117f). Oder an anderer Stelle schreibt er: "In Summerhill fragen wir unsere Fünfjährigen nicht, ob sie einen Feuerschutz brauchen oder nicht. Wir lassen einen Sechsjährigen nicht entscheiden, ob er ins Freie gehen kann oder nicht, wenn er Fieber hat. Und wir fragen auch kein übermüdetes Kind, ob es ins Bett gehen will oder nicht. Man fragt ein krankes Kind nicht nach seiner Einwilligung, wenn man ihm Medizin gibt." (Neill 1969, 157).

Um den Schutz vor Gefahren des Einzelnen zu gewähren, gibt es in Summerhill eine Reihe von solchen Regeln, die von der Schulversammlung beschlossen wurden. Autorität wird in Summerhill, das wird auch hier deutlich, nicht durch den Einzelnen formuliert und verkörpert, sondern durch die Gruppe. "Naturgemäß muß man dem Kind, dessen Weltkenntnis beschränkt ist, viele Regeln des Verhaltens mitteilen, ohne deren Beachtung es Anstoß erregen würde." (Schmidt-Herrmann 1987, 99). Entscheidend ist hierbei, daß die Achtung der Persönlichkeit, in körperlicher sowie in geistig-seelischer Beziehung gewährt werden muß und seine Freiheit weder beeinträchtigt noch beleidigt oder in irgendeiner anderen Weise in Schwierigkeiten oder Verlegenheit gebracht werden darf (vgl. Neill 1969, 158).

Neill versteht den Begriff "Freiheit" nicht als absolut, sondern als relativ, bezogen auf den in der Gesellschaft gewährten Freiheitsbegriff. Demnach erwartet man neben den Sicherheitsvorschriften auch noch weitere Beschränkungen für die Schüler und Schülerinnen von Summerhill. Sie dürfen beispielsweise auf Bäume klettern, nicht aber auf die Dächer steigen (Neill 1969, 38 u. 65). Der "... Besitz von Luftgewehren und anderen gefährlichen Waffen ist nicht gestattet" (Neill 1969, 38). "Fluchen in der Stadt, schlechtes Benehmen im Kino, [...], im Speisesaal mit Essen werfen" (Neill 1969, 65), werden mit Geldstrafen geahndet. Das Spielen mit der Feuerleiter ist verboten (vgl. Neill 1969, 116). Man gestattet den Kindern zwar das Rauchen, nicht aber den Genuß von Alkohol (Neill 1969, 329). Dies bedeutet Neill zufolge, daß nicht die menschliche Willkür regiert und ebenfalls keine totale Freiheit existiert, sondern der "gesunde Menschenverstand" (Neill 1969, 156) herrscht.

Von einem antiautoritären Modell zu sprechen erscheint nun zweifelhaft. Zieht man die Tatsache in Betracht, daß der Titel seine Bestsellers auf dringenden Wunsch seines Verlegers den Begriff "antiautoritär" trägt, Neill jedoch nicht den Anspruch erhob, den Titel "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" zu wählen dann erscheint es richtiger von einer repressionsfreien Erziehung zu sprechen.

Sicher gibt es in Summerhill viele Freiheiten, auf die viele Kinder in unserer Gesellschaft verzichten müssen: Kein Zwang zum Unterricht, kein Religionsunterricht, kein Zwang zu irgendeiner Art von regelmäßiger Arbeit, freie Entfaltung der Sexualität, freie Wahl der Kleidung und keine Forderung nach annehmbaren Tischmanieren oder die Forderung, unnötigen Lärm zu vermeiden. Es trifft nun aber sicherlich nicht zu, daß die Schule den Eindruck vermittelt, daß sie "ein schrankenlos freies Verhalten" (Hirschfeld 1987, 96) ermöglicht. Doch in anderer Hinsicht gesteht Neill dem jungen Menschen Entscheidungen zu, die man gewöhnlich erwachsenen Menschen vorbehält, wie beispielsweise die freie Wahl der Kleidung und der Lektüre. Die Beschaffenheit des Ortes und das Treffen auf Personen mit charakteristischen Eigenschaften fordert Rücksichtnahme. So kann man in der Schule - trotz freier Bücherauswahl - beispielsweise nur solche Schriften lesen, die ihnen in jenem Augenblick ihres Vorhabens zugänglich sind. In Summerhill wäre ein Zusammenleben bzw. eine Interaktion gar nicht möglich, wenn das Verhalten isolierter Individuen überwiegen würde. Es wäre falsch, von einer totalen Befreiung des Kindes durch Summerhill zu sprechen. Es läßt sich aber herausstellen, daß die Kinder in vielerlei Hinsicht dort mehr Freiheit genießen als andernorts.