"Die 68er und ihre Kinder Ein Plädoyer gegen antiautoritäre und jede andere Erziehung"
http://regenbogen.kraetzae.de/ausgaben/23/gegenerziehung
Einen Text, in dem behauptet wird, "antiautoritäre Erziehung ist also nur als Ganzes gescheitert", und zwar an ihren inneren Widersprüchen. Wie in deutschen Schulaufsätzen üblich, wird diese These selbstverständlich nur behauptet, nicht belegt. Man kann also davon ausgehen, dass dahinter die von BILD, der übrigen Springer-Presse, der FAZ vorneweg und den anderen Medien und interessierten Kreisen hinterher in die Welt gesetzte Behauptung unkritisch übernommen und weiter verbreitet wird.
Wie sieht die Wirklichkeit aus?
zog sie folgendes Fazit:
"Von 'Perversität', 'entmentschter Apo-Pest' und 'Sittenverfall' konnte keine Rede sein. Die hohe Bereitschaft der 'antiautoritären' Kinder, in sozialen Konfliktsituationen kooperative Lösungen anzubieten, spricht eher für das Gegenteil, für ein starkes 'Wir-Gefühl' und für einen Sittenkodex, der sich nicht nur am eigenen, sondern auch Wohl des anderen orientiert. Auch ist das flexiblere Über-Ich der 'antiautoritären' Kinder nicht einseitig den Erwachsenen nachgebildet, es ist vielmehr in starkem Maße durch die Erfahrungen in der Kindergruppe geprägt. Das Kind erlebt seine emotionale Sicherheit durch den Erwachsenen einerseits und durch die Kindergruppe andererseits." (S. 159 f)
Wie zu erwarten, wurde die Untersuchung von interessierter Seite wegen angeblich methodischer Mängel scharf kritisiert:
"Die methodischen Mängel der Untersuchung waren indessen so eklatant, dass wenig auf sie zu geben war. Nicht nur waren die Unterschiede hauchdünn und elf Probanden etwas wenig, um signifikante Schlüsse zu ziehen. Vor allem hatte Henningsen unterlassen, alternative Erklärungen für ihr Resultat auszuloten; sie hatte nicht einmal nachgeprüft, welchem Erziehungsstil ihre Probanden zu Hause ausgesetzt waren."
http://www.zeit.de/archiv/1999/29/199929.erziehung_.xml?page=all
Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, dass in dem ganzen Text der Begriff "Kindergarten" gar nicht vorkommt.
Es stellt sich nun die Frage, ob es andere Kriterien gibt, welche die Thesen von Henningsen stützen/widerlegen. Da die "antiautoritären" Kinderläden damals im hellsten Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit standen, wurde die Einschulung dieser Kinder mit höchstem medialen Interessen verfolgt. Ich zitiere zwei Beispiele aus Presseberichten.
- Beispiel 1: Auszug aus der "Stuttgarter Zeitung" vom 12.05.1972
Skeptiker mußten enttäuscht werden: Die Kinder aus sogenannten Kinderläden, also aus nichtautoritären Kindergärten, hielten in ihrem ersten Schuljahr nicht, was sich Gegner dieser Erziehungsmethode erhofft hatten. Es gab keine Revolution, und die Schule blieb auch heil, aber dafür gibt es eine Lehrerin, die von Ihnen sagt: "Sie sind die reinsten Musterschüler." Wären sie nicht von vornherein der Gesellschaft auf dem Präsentierteller dargeboten worden, wer weiß, ob dann nicht das argwöhnische Überwachen ihrer Schulpremiere ausgeblieben wäre, die sie, in einer Gruppe von elf Kindern, in Stuttgart an der Jakobschule gegeben und bestens bestanden haben. Was wiederum ganz gewiß auch ein Verdienst der sehr jungen und offensichtlich pädagogisch recht begabten Lehrerin Ortrud Kirchner ist, die am Dienstagabend in der Liederhalle vor dem Stuttgarter Frauendienst referiert hat.
Ihre Ausführungen waren, ohne jegliche Einschränkung, ein einziges Lob auf diese Kinder und ihre sozialen Verhaltensweisen, auch auf deren Eltern, weshalb sich denn die Lehrerin auch durch noch so bohrende Fragen aus dem Auditorium nicht von ihrer Meinung (und ihrer Erfahrung) abbringen ließ: Nein, von Schwierigkeiten gebe es wirklich nichts zu berichten. Und so mag es manchem Zuhörer an diesem Abend gegangen sein wie weiland jenem Schulrat, der die Klasse, die keineswegs als Schulversuch gewertet wird, besuchte und dem es verdächtig schien, daß sich um alles in der Welt nicht jene negativen Erwartungen erfüllen wollten, mit denen man die Kinderladen-Kinder vor ihrem Schuldebüt versehen hatte. Ortrud Kirchner, die mit dieser Klasse (sie besteht aus 37 Kindern) überhaupt erst den Beruf begann, erfuhr zwei Wochen, vor Schulbeginn, was da auf sie zukomme, nahm die Anweisung des - "sehr aufgeschlossenen" - Rektors, die Klasse zu führen wie andere, auf, legte sich eine Methode zurecht: Keine unbegründeten Verbote oder Befehle, "aber das sollte eigentlich normal sein". Und gleich bei der Schulfeier fielen ihr ihre künftigen Schützlinge auf; die saßen nicht stramm da, die liefen umher, aßen, erforschten die Umgebung.
Nach und nach im Unterricht "haben sie sich schnell an eine gewisse Ordnung gewöhnt", ja, "ihnen konnte ich vieles schneller begreiflich machen", und die haben sogar eingesehen, "daß die Lehrerin ihnen etwas beibringen will". So entwickelten sich die elf, deren Eltern gewünscht hatten, daß sie in der Gruppe zusammenbleiben, "zu reinsten Musterschülern", die "mit großem Interesse an das Lernen herangingen, die auch noch aufpaßten, wenn's langweilig wurde" ... (Der hier beschriebene Kinderladen ist einer von dreien, über deren in dem berühmt/berüchtigten Film von Gerhard Bott: "Erziehung zum Ungehorsam" berichtet wurde, nach dessen Ausstrahlung zur Hauptsendezeit in der ARD ein Aufschrei der Empörung durchs Land gegangen war)
Die Beklommenheit löste sich erst nach einigen Tagen. Dann entluden sich angestaute Aggressionen in chaotischen Gewaltausbrüchen. Die zum Teil verhaltensgestörten "Bürgerlichen" prügelten sich mit Kameraden, warfen mit Knetgummi, trommelten auf die Tische und bearbeiteten Puppen mit Fausthieben; Bücher fanden sie langweilig. Unwillig kreischten die Antiautoritären: "Aufhören mit dem Krach." ...
(Dazu aus :Furcht vor Freiheit vom 21.06.1971 DER SPIEGEL Seite 66)
Unter Rödelheimer Eltern der herkömmlichen wie der antiautoritären Richtung ist manches Vorurteil schon geschwunden. Laut Rektorin Brigitte Jehmlich kann "noch niemand behaupten, die eine Gruppe sei intelligenter als die andere. Die Schüler aus der Kinderschule (=Kinderladen WP) sind etwas wendiger und friedlicher".
Daß der Unterricht in der Klasse 1a für jeden Schüler individuell abgestuft ist, hat der Schulrat Otfried Reinhardt "als zuständiger Beamter der Schulaufsicht" nachgeprüft. Er stellte fest, "daß der Leistungsstand dieser Klasse durchweg als gut bezeichnet werden muß". Und: "Ich kenne keinen Kollegen, der soviele Mühe auf sich nehmen kann will , wie es Frau Stubenraucht tut."
(Der Kinderladen in Rödelheim war das zweite Beispiel in Botts Dokumentation "Erziehung zum Ungehorsam".
Im Folgenden ein leider wenig (?) bekannter Ausschnitt aus:
"Ich kann nur nur meine persönliche Meinung äußern und mich mit den so genannten Gefahren der Selbstbestimmung auseinandersetzen, denen sich Jean und Paul (die Eltern WP) gegenübersahen. Man hatte sie gewarnt, dass wir später der Promiskuität verfallen würden. Nun, die Promiskuität der Teenager auf der ganzen Welt ist heutzutage eine bedauerliche Tatsache. Die zu freie Erziehung der Jugend wird allgemein dafür verantwortlich gemacht. Aber in Wirklichkeit liegt es nur dann an der Freiheit, wenn gleichzeitig Liebe und Zuwendung von den Eltern verweigert werden. Unsere Eltern gaben uns Liebe im Überfluss ... Jean hat mir angeboten, Empfängnisverhütungsmittel zu besorgen, falls ich sie brauche. Ich hätte also jederzeit Geschlechtsverkehr haben können, aber der Gedanke ist mir nie gekommen. Auch jetzt erscheint er mir nicht sehr verlockend. Die immer offen gezeigte Zuneigung, die Paul und Jean füreinander hegten, haben meines Erachtens ganz entscheidend dazu beigetragen, dass ich eine körperliche Beziehung nur als Ausdruck und Auswirkung einer Liebesbeziehung für wünschenswert halte."
(S. 301f - Erica Ritter, geb. 1959, damals 19 Jahre alt)
"Ich musste mir lange überlegen, was ich sagen sollte, als ich gebeten wurde, etwas für die neue Ausgabe "Freie Kindererziehung in der Familie" zu schreiben ... Der Grund für meine Schwierigkeiten lag darin, dass ich von klein auf abweichende Meinungen immer toleriert habe, dass ich sie überhaupt mehr bewusst wahrnahm. Es war mir in Fleisch und Blut übergegangen., die unüberlegten, rebellischen Handlungen meiner Bekannten widerspruchslos hinzunehmen. Ich habe schon vor langer Zeit den Versuch, sie von ihren Vorhaben abzubringen, als zwecklos aufgegeben, nachdem ich öffentlich als Feigling, Spielverderberin und Zimperliese bezeichnet worden war. Doch nachträglich erinnere ich mich, dass ich oftmals nicht verstand, warum der Lehrer in der Klasse auf Dinge wie gutes Benehmen und ordnungsgemäße Ablieferung der Hausaufgaben dringen musste. Schlechtes Benehmen und Faulheit bei den Schularbeiten schienen mir damals vollkommen sinnlos und unnatürlich."
(S. 305 - Penny Ritter, geb. 1953, 18 Jahre alt)
"Alle meine Freunde rebellieren gegen Autorität. Für mich ist das einfach nicht zu verstehen. So fuhr der Junge auf unserem Ausflug an die See nur aus dem Grunde so schnell, weil er die Polizei herausfordern und sich an der Gefahr berauschen wollte ... Noch etwas finde ich besorgniserregend bei meinen Freunden. Neun von zehn - und das gilt für die meisten Leute - begannen sehr früh mit dem Rauchen, weil sie sich erwachsen fühlen wollten ... Ich selbst habe nie das Verlangen gehabt, mich bestimmten weitverbreiteten Verhaltensweisen wie dem Rauchen anzupassen ...
In der Schule gerate ich, da meine Ansichten von denen meiner Mitschüler abweichen, immer wieder mit einzelnen oder auch der ganzen Klasse in hitzige Diskussionen. Gewöhnlich geht es dabei um drei Themen. Erstens um die Selbstbestimmung, denn ich beabsichtige, meine Kinder autonom zu erziehen, das heißt mit Liebe. Der Rest der Klasse dagegen glaubt, dass Schläge und ein wenig Angst nützlich sein können, was natürlich Unsinn ist."
(S. 310 - Nicola Ritter, geb. 1956, 15 Jahre alt)
"Im allgemeinen sollen wir zu einer bestimmten Zeit am Abend schlafen gehen, aber wenn wir nicht müde sind, können wir uns in unseren Schlafzimmern auch noch leise beschäftigen. Die Erwachsenen haben ebenfalls ein Anrecht auf Ungestörtheit. In unserer Familie herrscht nicht Zügellosigkeit, sondern Freiheit. Wenn ich aber durch Handlungen jemanden verärgert habe, kann ich mich nicht auf meine Freiheit berufen. Denn wenn ich einen anderen störe, mache ich nicht von meiner Freiheit Gebrauch, sondern schränke die Freiheit des andern einen [...] Es ist ungeheuer schwierig, jemandem die Vorzüge der Selbstbestimmung nahezubringen. Darum werde ich nicht versuchen, den Leser zu überzeugen. Die meisten Leute, besonders wenn sie selber Kinder haben, geben ungern zu, dass sie falsch erzogen worden sind oder dass sie ihre eigenen Kinder nicht richtig erziehen. Daher sind sie so uneinsichtig. Sie können sich vorne und hinten und in der Mitte widersprechen, aber sie werden das nicht einsehen. [...] Mitglied einer autonomen Familie sein heißt für die Eltern Rücksicht auf die Kinder nehmen, und für die Kinder, Rücksicht auf die Eltern zu nehmen."
(S. 313f - Jonquil Ritter, geb. 1958 im Alter von 13 Jahren)
"Frage (F): Verstehen andere Kinder, wie das bei uns in der Familie funktioniert?
Antwort(A): Nein [...]
F: Kannst du Dinge tun, die anderen Kinder verboten sind?
A: Ja.
F: Was für Dinge?
A: Zu Papa 'Dummkopf' sagen, meinen Teller nicht leer essen, erst dann zu Bett gehen, wenn ich wirklich müde bin, Obst nehmen, ohne Mama zu fragen.
(S. 315 - Antworten von Markus Ritter, geb. 1962, damals 9 Jahre alt.
"Gleichwohl unterstützten auch Ehepaare, die noch ältere Kinder hatten, die Lehrerin Stubenrauch, weil sie deren Unterrichterfolge durch vergleichende Beobachtungen zu Hause bestätigt sahen. Die Kinder aus der 1a waren - so schien es ihnen - aufgeweckter, als deren ältere Geschwister in diesem Alter gewesen waren.
Als sich solche Einsichten unter den Eltern verbreiteten, entschloß sich der konventionellste Vater zu einer massiven Protestaktion: Er ließ sich andere Mit-Eltern einen Brief mitunterschreiben, in dem er sich beim Stadtschulamt beschwerte: "Die Zustände in dieser Klasse spotten jeder Beschreibung." Der Leistungsstand könne nur als "erschreckend niedrig" bezeichnet werden. Einige der antiautoritären Schüler seien schon "mit einem Küchenmesser im Stiefel" oder "Fahrtenmesser am Gürtel" zum Unterricht erschienen.
Daraufhin wurde der fünfte Elternabend anberaumt. Die Lehrerin Stubenrauch verwahrte sich gegen die (sogar in einem Bericht der "Welt" als Faktum gemeldete) Behauptung, ein antiautoritärer Junge habe einen Mitschüler "zusammengeschlagen" und sie habe zugeschaut: In Wirklichkeit war es nicht ein antiautoritär erzogenes, sondern ein verhaltensgestörtes Kind gewesen, und es hatte den Mitschüler nicht geschlagen, sondern gekratzt. Die in dem Elternbrief erwähnten Messer seien auf ihre Bitte hin sofort abgelegt und fortan zu Hause gelassen worden.
Tatsächlich gab und bigt es weder Abkapselung noch ernste Konflikte zwischen den konventionell un den unkonventiionell erzogenen KIndern in der Rödelheimer Grundschule. Aller Streit ging lediglich von den Eltern aus." Aus:Furcht vor Freiheit vom 21.06.1971 DER SPIEGEL Seite 68
Derlei wurde systematisch betrieben. Eine ausführliche Dokumentation über die Berliner Verhältnisse findet sich in
"Berlinder Kinderläden" Kiepenheuer&Witsch 1970
KRÄTZA verbreitet mit ihrem Text ebenfalls solche Falschmeldungen und macht sich der Geschichtsfälschung schuldig.
Sie hatte bewiesen, dass ein anderer Umgang zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden möglich und erfolgreich war, als ihn die abendländische Ideologie der "Erziehung" predigt, nämlich ein von gegenseitiger Achtsamkeit geprägter. Damit aber rüttelte sie an einem Grundpfeiler abendländischen Kulturverständnisses, nämlich an der von Kant verkündeten Maxime
"Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht".
Sie stellte damit das gesamte herkömmliche hierarchische Familienverständnis und das gesamte Schul- und Ausbildungssystem in Frage.
Dies provozierte rücksichtslose Gegenkräfte auf allen Ebenen, die auch vor Fälschungen und Verleumdungen nicht zurückscheuten, so dass, was man "antiautoritäre" Erziehung nannte, aus der Öffentlichkeit praktisch verschwand und nur in privaten Nischen weiter lebte.
KRÄTZA beteiligt sich mit dem ins Netz gestellten Text an dieser Hetzkampagne, und wer meint, sich von der "antiautoritären" Erziehung distanzieren zu sollen, möge nur mal fünf Minuten nachdenken, gegen wen er sich da stellt und mit wem er sich solidarisiert.