Von Salzburg aus sollte Neill im Auftrag von "New Era" Deutschland bereisen und über die Arbeit der unterschiedlichsten Reformschulen berichten. Sein erster Weg führte ihn auf Einladung von Lilian NEUSTÄTTER, nach Dresden. Sie war Australierin, die in Hellerau, einem Vorort von Dresden, mit ihrem Mann, dem Augenarzt Dr. Otto NEUSTÄTTER und dem gemeinsamen Sohn wohnte. Bei Kriegsausbruch hielt sich Lilian NEUSTÄTTER in England auf, wo sie auch bis Kriegsende blieb. Ihren Sohn ließ sie in der King Alfred School unterrichten (1918). Auf diese Weise lernte sie Neill kennen. Neill besuchte sie regelmäßig. In stundenlangen Gesprächen diskutierten sie die Pläne seiner neuen Schule. Lilian war von der Idee so begeistert, daß sie sogar ihren Mann in Deutschland davon zu überzeugen versuchte, nach England zu kommen, um beim Aufbau der neuen Schule mitzuarbeiten. Doch als der Krieg zu Ende war, wollte Otto NEUSTÄTTER, daß seine Frau zurück nach Deutschland kommt. Da die Verwirklichung der Schulpläne in England aus finanziellen Gründen nicht möglich war, gab sie dem Drängen ihres Mannes nach und kehrte nach Hellerau zurück.
Hellerau war in Form einer "Gartenstadt" angelegt. Es war eines der ersten Projekte der Gründerväter des 1907 in München gegründeten deutschen Werkbundes und war ursprünglich als Platz für Künstler und Kunsthandwerker geplant. Zentrales Gebäude dieser Gartenstadt Hellerau war die 1911 fertiggestellte Jacques-Dalcroze-Schule. Der Erbauer, Wolf Dohrn, ein Violinist, wollte damit ein Weltzentrum für "all that is noblest and best in education"6 errichten. Von Beginn an war die Schule einer neuen Art von Tanz und Bewegung, der Eurhythmie, gewidmet. Sie wurde von deren Urheber, Jacques Dalcroze, geleitet.
Neill war Dalcroze schon 1912 begegnet, als dieser in der Queen`s Hall in London seine Eurhythmie demonstrierte. Später, als Lehrer in Gretna Green bekam er einen bebilderten Artikel über die Dalcroze Schule zu lesen und war schon damals von der Schule begeistert. Er vermerkte in seinem Tagebuch: "Die Fotographien waren wunderschöne Studien der Anmut; die Schule ist offenbar voller Pavlovas7. Ich denke, ich sollte ein Eurhythmie-System auf Basis der Photographien einrichten."8
In Dresden angekommen, vernachläßigte Neill bald seinen ursprünglichen Auftrag, was aus mehreren provokanten Berichten an die Herausgeberin der "New Era" hervorgeht. Einer seiner Berichte bestand aus einem Brief, den er an die Herausgeberin Beatrice Ensor schrieb: "Liebe Mrs. Ensor! Ich weiß, Sie stellen sich vor, daß ich meine Zeit damit verbringe herumzurennen, um die Schulen Deutschlands zu besuchen. Die Wahrheit ist, daß ich den Tag damit verbringe, in der Sonne zu liegen. Gegenwärtig interessiere ich mich weit mehr für Sonnenbaden, Bier und Tabak als für all die neuen Erziehungsexperimente."9 Über die Dalcroze-Schule schrieb er in der Fortsetzung des Artikels: "Ich warne sie ernsthaft, daß ich nicht nach London zurückkehre, bevor ich nicht einen vollen Kurs hier besucht habe."10
Damals, 1921, wurde die Eurhythmie-Abteilung
der Dalcroce Schule von der Amerikanerin Christine Baer, einer Schülerin
Emile Jacques- Dalcrozes, geleitet. Etwa 50 Frauen studierten Eurhythmie,
um Tanz- oder Gymnastiklehrerinnen zu werden. Als zweite Abteilung der
Dalcroce Schule entstand über eine Elterninitiative die "Neue deutsche
Schule".
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Eurythmie Abteilung | Neue deutsche Schule | Ausländer Abteilung |
(Leiterin: Chr. Baer) | (Leiter: Dr. Theil) | (Leiter: A.S. Neill) |
Das Lehrerkollegium an Neills Schule bestand aus Persönlichkeiten, die er sehr schätzte. Zufällig traf er an einer Straßenbahnhaltestelle in Dresden Willa Muir, eine frühere Studienkollegin. Sie war mit ihrem Mann, Edwin Muir, einem englischen Schriftsteller, in Europa unterwegs und nahm Neills Angebot, an seiner Schule zu unterrichten, an. Ein weiterer Lehrer war Prof. Zutt, der zuvor 15 Jahre lang eine Handwerkerschule in Budapest geleitet hatte11. Er ermutigte Neill, selbst praktische Arbeiten auszuführen. Von der Zeit an beschäftigte sich auch Neill mit Holz- und Metallbearbeitung. Künftig sollte an keiner Schule, die er betrieb, eine Werkstatt fehlen12.
Fünf Minuten von der Dalcroze Schule entfernt stand ein leerstehendes Haus, das zu einem Schülerheim umfunktioniert wurde. Lilian Neustätter übernahm die Organisation des Schülerheimes, in dem sowohl die Lehrer als auch die Schüler untergebracht waren. Lilian wurde bald eine Mutterfigur für die Eurhythmieschüler und die jüngeren Schüler an Neills Schule, Neill übernahm so etwas wie eine Vaterrolle13.
Neill hatte in der "New Era" inseriert und die Gründung der "Internationalen Schule" bekanntgegeben. Daraus resultierte, daß vier seiner Schüler aus England kamen. Von den übrigen Schüler waren einer aus Russland, zwei aus Belgien, einer aus Norwegen und drei aus Jugoslawien. Er nahm auch drei deutsche Kinder auf, die aber aus Gründen der Schulgesetzgebung an der deutschen Abteilung angemeldet waren14.
Schon nach einiger Zeit stellten sich Schwierigkeiten in der Kooperation mit den Kollegen der "Neuen deutschen Schule" ein. Neill hatte das Gefühl, daß diese an Erziehung und Charakterformung interessiert waren, aber nicht an den Kindern. Die Ernsthaftigkeit und Humorlosigkeit der deutschen Pädagogen, die Charlie Chaplins Filme aus Mangel an erzieherischem Wert ablehnten, machten Neill zu schaffen. Die "Neue deutsche Schule" wurde von Idealisten betrieben, von denen die meisten der Jugendbewegung Deutschlands angehörten. Sie verurteilten Tabak, Alkohol, Foxtrott und Kinos; sie trugen Wandervögel-Kleidung. "Wir auf der anderen Seite hatten andere Ideale! Wir waren gewöhnliche Menschen, die Bier tranken und rauchten und Foxtrott tanzten. Unsere Absicht war es, unser eigenes Leben zu leben, während wir den Kindern freistellten, ihr eigenes Leben zu leben. Wir gingen davon aus, daß Kinder ihre eigenen Ideale bilden würden."15
Im Schülerheim war Neill für das obere Stockwerk zuständig, der Leiter der deutschen Abteilung für das untere. Wenn Neill mit seinen Schülern zu Gramophonplatten tanzte kam es vor, daß sich Schüler des unteren Stockwerks die Hintertreppe hinaufschlichen um mitzutanzen anstatt Goethe oder Nietsche vorgelesen zu bekommen. Das führte zu Verstimmungen.16
Später übernahm Hermann Harless die Leitung der deutschen Abteilung. Harless hatte bis 1920 an Paul Geheebs Odenwaldschule gearbeitet und gründete später das Landerziehungsheim Marquartstein in Oberbayern17. Befriedigt stellte Neill fest, daß er und Harless an dieselben Dinge glaubten.18
In Hellerau schrieb Neill das vierte seiner Dominie-Bücher, "A Dominie Abroad". Er beschreibt darin nahezu in Form eines Tagebuches seine Erlebnisse in Deutschland. Offenbar sollte das Buch auch bewirken, daß englische Leser ihre Kinder nach Hellerau schicken. Als "A Dominie Abroad" erschien, war Neill aber bereits dabei, Deutschland zu verlassen.
Die Hintergründe dafür
beschreibt er folgendermaßen: "1923 brach in Sachsen die Revolution
aus. In den Straßen von Dresden wurde geschossen. Unsere Schule wurde
immer leerer."19 Nationalismus
und Antisemitismus waren Gang und Gäbe. Das Ruhrgebiet war von den
Franzosen annektiert worden, und die hohe Inflation hatte Neills Ersparnisse
wertlos gemacht. Die Neue Schule mußt zusperren, nachdem viele Eltern
ihre Kinder wegen der politischen Spannungen in diesem Gebiet nach Hause
geholt hatten. Als die Eltern der ausländischen Kinder ängstlich
forderten, ihre Kinder nach Hause zu bringen, entschied Neill, Deutschland
zu verlassen.
<< 6 ebd. S. 116
<< 7 Anna Pawlowna Matwejewa war eine der berühmtesten Ballettänzerinnen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie stammte aus Rußland, lebte aber viele Jahre in London
<< 8 vgl. Kühn 1995, S. 34
<< 9 zit.n. CROALL, 1983, S. 115, übersetzt in Kühn, 1995
<< 10 ebd. S. 115,
<< 11 Zutt arbeitete nach Ideen, die sein Freund, Franz Cizek entwickelt hatte. Cizek hatte bereits 1898 als Professor an der Kunstgewerbeschule Wien freie Kindermalkurse eingeführt. Die Resultate gaben eine neue Sicht auf die kreativen Kapazitäten von Kindern frei.
<< 12 vgl. Croall, 1983, S. 118 f
<< 13 ebd. S. 115f
<< 14 ebd. S. 120
<< 15 vgl. Neill 1923, S. 119, übersetzt von Kühn
<< 16 vgl. Neill 1972, S. 149
<< 17 vgl. Harless in Cassirer u.a. 1960, S. 53, zit.n. Kühn
<< 18 vgl. Neill 1923, S. 226, zit. n. Kühn
<< 19 vgl. Neill 1982, S. 150